Emails, Push-Meldungen, RSS-Feeds – 5 bis 6 Stunden sind Mitteleuropäer im Durchschnitt online. Die digitale Dekade hat eine neue Wahrnehmungskultur geschaffen, die tief in die Dynamik der Arbeitswelt hineinspielt. Deskilling und Reskilling finden in einer globalen Dimension statt, die an die paradigmatischen Umwälzungen der ersten industriellen Revolution erinnert.
Doch das Thema ist tiefgreifender als Schlagwörter wie Industrie 4.0. und Digitalisierung suggerieren. Nicht nur die äußere Arbeitskultur ist durch das digitale Medienfeuer im Wandel begriffen, sondern vor allem unsere Denk- und Wahrnehmungsfähigkeit, unsere Lern- und Konzentrationsfähigkeit, aber auch unsere soziale Kompetenz.
Und wieder ist die Digitalisierung schuld: Reizüberflutung, Burnout, soziale Entfremdung – alles Symptome unserer modernen Welt? Nicht ganz. Neurasthenie oder Nervenschwäche war in den Tageszeitungen vor 140 Jahren ein Trendwort, dass analog zur heutigen Zeit, eine Vielzahl psychischer oder physischer Symptome auf die moderne Zivilisation bezog: Die Telegrafen und Eisenbahnen von damals sind die digitalen Medien und selbstfahrenden Autos von heute. Klar hat jeder soziale Wandel auch unangenehme Folgeerscheinungen, doch vielfach sind es „nur“ adäquate Wachstumsschmerzen, die aus der Notwendigkeit entstehen, unsere Gesellschaft und Arbeitswelt neu zu denken.
Einen Unterschied zu damals gibt es aber doch: Der Daten- und Informationsfluss geht diesmal in beide Richtungen. Wir sind nicht mehr nur passive Konsumenten technischer Neuerungen – das Individuum steht als aktiver Bestandteil im Mittelpunkt der digitalen Revolution.
Old vs New School – schöne neue Arbeitswelt
Der Individualisierungstrend hat auch ein modernes Selbstbewusstsein in der Arbeitswelt angeregt. Eigenverantwortung, zeitliche und räumliche Flexibilität, unternehmensinternes Mitspracherecht, funktionsübergreifende Kompetenzen der Mitarbeiter sind Indikatoren, die die Zeitgemäßheit eines Unternehmens abbilden. Dagegen sind Old-School Unternehmen mit steilen Hierarchiestrukturen, starr fixierten Aufgaben und weisungsgebundenen Posten am Abflauen.
Spätestens seit K.I. Entitäten Schachweltmeistern den Rang ablaufen, ist deutlich geworden, dass auf binäre Logik aufbauende Tätigkeiten vollständig durch die Maschine ersetzt werden können. Kreativität, Agilität, kombinatorische und ordnende Wissensverarbeitung statt lineare Wissensanhäufung sind gefragt. Die endlose Informationsflut eröffnet damit neue Aufgabenbereiche für den Menschen, dort wo die Maschine an ihre Grenzen kommt:
Kreative Fragen zu stellen und Wissen innovativ miteinander zu verknüpfen, kurz – ganzheitliches Denken zählt zu den zentralen Hard Skills im Zeitalter der Kreativökonomie.
Hyperspezialisierung vs Multi-Tasking
Lange galt Hyperspezialisierung als Trend der Zukunft. Mittlerweile drohen die Errungenschaften der künstlichen Intelligenzforschung, sowie beängstigend smarte Algorithmen auch Expertenberufe im technischen Sektor obsolet zu machen. Auf der anderen Seite scheint der negativ konnotierte Zerstreuungsfaktor zu einer neuen Mehrfachaufgabenperformanz oder Multi-Tasking Fähigkeit zu transzendieren. Die maximale Erreichbarkeit trägt also auch positive Früchte? Hirnforscher sprechen hier von einer digitalen Intelligenzsteigerung. Digital Natives können optische Informationen rascher verarbeiten und denken plastisch.
Das ökonomische Potenzial dieser neuen neuronalen Evolution wurde in den USA frühzeitig erkannt: Traditionelle betriebswirtschaftliche Kompetenzen werden immer mehr zugunsten von Disziplinen aus dem Design- und Kunsthochschulsektor abgebaut. In diesen Studiengängen wird verknüpfendes Denken gezielt geschult. Ideenfindungsprozesse und Produktentwicklung sind schon lange keine One-Man-Show einzelner Experten, sondern ein assoziativer Prozess und Team-Arbeit.
Für zukunftsorientierte Personaler werden daher Absolventen aus dem kreativen Sektor durch ihre Versiertheit im netzwerkorientierten, kooperativen Arbeiten und Denken immer attraktiver. Diese bringen allerdings ein dem traditionellen Dienstleistungsbewusstsein entgegengesetztes Mindset ins Spiel – sie verstehen sich nicht als namen- und gesichtslose Arbeitstiere, sondern sehen ihren Beruf als Teil ihrer Persönlichkeit und Lifestyle-Identität. Die daraus resultierenden Forderungen nach einer neuen Arbeitskultur kennt man aus dem Begriff „New Work“:
- Vernetztes, ganzheitliches Denken neben fachlich, technischen Kompetenzen
- Co-Working Spaces und dezentrale Arbeitsformen als Produktivitätsbooster im Gegensatz zu klassischen Office-Modellen
- Offenes Ideenmanagement (Open Innovation) und assoziatives Arbeiten als Steigerung der Innovationsqualität
- Führungsmanagement auf Basis organischer Autoritäten sowie allgemein flachere Hierarchien
„Loving Kindness“ – die Kompetenz der Zukunft?
"Liebevoll zu sein im Umgang mit sich selbst, mit anderen Menschen und mit anderen Lebewesen ist die wichtigste Fähigkeit, die wir brauchen, um unsere Zukunft menschlich, lebendig und nachhaltig zu gestalten."
So Prof. Dr. Gerald Hüther im Buch Future Skills – 30 zukunftsentscheidende Kompetenzen und wie wir sie lernen können (Vahlen-Verlag, 2021).
„Loving Kindness“ zählt für den wohl renommiertesten Hirnforscher Deutschlands zu den wichtigsten Zukunftskompetenzen. Doch ist eine liebevolle Arbeitswelt tatsächlich auch aus ökonomischer Sicht ein relevanter Faktor? In einem Work Environment, das immer mehr netzwerk- und teamorientierte Kompetenzen und Selbstverantwortung erfordert; in einer digitalen Welt, die sich immer stärker global vernetzt und wo die einzelnen Akteure sowohl beruflich als auch privat immer transparenter, aber auch selbstbewusster werden, sollte die Antwort lauten: Ja!
Liebevoller Umgang ist kein peripherer Parameter, kein Bonus im Sinne eines netten Arbeitsklimas – in der Arbeitskultur von heute sollte „loving kindness“ als Erfolgsvoraussetzung betrachtet werden.